Rückblick auf die 23. Jahrestagung des EbM-Netzwerks

„Evidenzbasierte Medizin für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung“

Die 23. Jahrestagung des EbM-Netzwerks fand unter dem Motto „Evidenzbasierte Medizin für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung“ vom 1. bis 3. September in Lübeck statt. Die Kongresspräsidentin Katrin Balzer hat die Höhepunkte des Kongresses zusammengefasst.

In Zeiten des demografischen und technologischen Wandels, des wachsenden Bewusstseins für begrenzte Ressourcen und immer besser zugänglicher wissenschaftlicher Informationen steigen die Ansprüche an die evidenzbasierte Medizin (EbM), zu einer bedarfsgerechten, personenzentrierten Gesundheitsversorgung beizutragen. Dies gilt für individuelle Behandlungsentscheidungen genauso wie für gesundheitspolitische Entscheidungen über die Kostenübernahme durch die Solidargemeinschaft. Welche Beiträge die EbM zur Sicherung einer bedarfsgerechten Versorgung auf all diesen Ebenen leisten kann, stand im Mittelpunkt der dreitätigen Jahrestagung des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM-Netzwerk), die vom 1. bis 3. September in Lübeck stattfand.

Über 300 Teilnehmende aus der Wissenschaft und Praxis der Gesundheitsversorgung und der Gesundheitspolitik diskutierten in Symposien, Workshops und Vortragsreihen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse zum Versorgungsbedarf und zu den Vor- und Nachteilen bestimmter Versorgungsleistungen bestmöglich gewonnen, verbreitet und in der Praxis genutzt werden können. Eröffnet wurde der Kongress mit einem Plenarvortrag von Prof. Dr. Reinhard Busse, Technische Universität Berlin, zu der Frage: „Evidenz-informierte Gesundheitspolitik: (wie) kann das funktionieren“. In einem weiteren Plenarvortrag erörterte Prof. Dr. Ursula Waßer, Richterin am Bundessozialgericht, inwieweit die Prinzipien der EbM inzwischen die Regelungen der Gesetzlichen Krankenversicherung prägen und welche Unregelmäßigkeiten hierbei jedoch nach wie vor bestehen. Abgerundet wurden die Plenarvorträge durch einen Vortrag von Dr. Jorien Veldwijk, Assistenzprofessorin an der Erasmus School of Health Policy and Management, Rotterdam (Niederlande), zu den Methoden der Erfassung und Berücksichtigung von Patientenpräferenzen für oder gegen bestimmte Versorgungsansätze. Weitere Themen der Symposien, Workshops, Kurzvorträge und Posterpräsentationen waren unter anderem um Strategien gegen Über-, Unter- oder Fehlversorgung, aktuelle methodische Entwicklungen in der Evaluation von Versorgungsansätzen unter Routinebedingungen sowie Methoden der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patientinnen und Patienten.

Über all die verschiedenen Kongressbeiträge hinweg zeichnete sich ab, dass die Potenziale des Gesundheitssystems in Deutschland für eine bedarfsgerechte Versorgung bei weitem noch nicht ausgeschöpft werden. Zwar habe Deutschland kein schlechtes Gesundheitssystem, jedoch schneide es zum Beispiel in Bezug auf die Verhinderung vermeidbarer Mortalität durch die getätigten Gesundheitsausgaben pro Kopf deutlich schlechter ab als etwa Frankreich, Dänemark, Österreich oder die Niederlande, so Prof. Dr. Reinhard Busse. Sowohl er als auch weitere Beitragende verwiesen auf Lücken in der Generierung und Bewertung wissenschaftlicher Evidenz für evidenzbasierte Entscheidungen auf gesundheitspolitischer Ebene, aber auch auf Barrieren in der Umsetzung evidenzbasierter Regelungen, zum Beispiel in Bezug auf Mindestmengen, sowie in der Überwachung und Evaluation der Versorgungsqualität.

Die aktuellen Rechtsgrundlagen im Leistungsrecht (vor allem Sozialgesetzbuch V) sind zwar von EbM-Grundsätzen getragen, dies jedoch nicht konsistent, wie unter anderem die Plenarreferentin Prof. Dr. Ursula Waßer anhand der aktuellen Rechtslage verdeutlichte. Im Fokus der Kritik standen in mehreren Kongressbeiträgen vor allem die Eruierung und Regelung einer bedarfsgerechten Versorgung in den Krankenhäusern. Dieser Versorgungssektor scheint aus mehreren Gründen rechtlich, behördlich und in Bezug auf die Evidenzbasierung ein «freies Spielfeld» zu sein – was zum Teil wegen der dort entstehenden Innovationen als gerechtfertigt angesehen werden könne, wie mehrere Referentinnen und Referenten betonten, insgesamt jedoch einer bedarfsgerechten Versorgung nicht zuträglich sei. Gefragt seien unter anderem verbindliche und funktionierende Mechanismen für Rückkopplungen und Konsequenzen bei klinisch nicht erklärbaren Abweichungen von Normen oder Entscheidungskorridoren. Auch klare Verantwortlichkeiten für die Generierung von bestmöglicher Evidenz und deren Bewertung (Appraisal) nicht nur für medikamentöse und nicht-medikamentöse Verfahren, sondern auch für die institutionelle Mesoebene (vor allem den Krankenhaussektor) und für bevölkerungsbezogene Maßnahmen auf der Makroebene, wie sie für die Pandemiebewältigung erforderlich waren und sind, fehlen. Während für die institutionelle Ebene eine Ausweitung und Schärfung des Auftrags des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG) als hilfreich bezeichnet wurde, blieb für die Makroebene die Frage offen, wo das «evidence based policy making» am besten verortet werden kann.

Als eine weitere Barriere für die Evidenzgenerierung und Überwachung der Versorgungsqualität wurden in mehreren Beiträgen der immer noch erschwerte Zugang zu Routinedaten und die fehlende Verknüpfung von Leistungsdaten auf Fallebene thematisiert. Hierbei wurde mehrfach auch der Umgang mit dem Datenschutz diskutiert, der so, wie er in Deutschland teilweise verstanden und ausgelegt werde, die Möglichkeiten der Generierung wissenschaftlicher Evidenz zum Bedarf und zur Evaluation der Bedarfsgerechtigkeit erheblich behindere. Andere Länder, z. B. Dänemark, wurden als Gegenbeispiele genannt. Ebenfalls deutlich wurde, dass ethische Anliegen systematischer erhoben werden sollten, zum Beispiel für Health Technology Assessments (HTA) und Entscheidungen auf der Makroebene des Gesundheitssystems (Policy Decisions). Aus ethischer Perspektive wurde die klare An- und Aufforderung offenbar, wirklich ernst zu machen mit einer konsequenten und strukturierten Bürger:innen- und Betroffenenbeteiligung im Assessment und im Appraisal (Bewertung) von Evidenz und Bedarf für Gesundheitsleistungen durch die Gremien der Selbstverwaltung, wie es etwa bereits das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE), die Swedish Agency for Health Technology Assessment and Assessment of Social Services (SBU) oder die Smarter Medicine Bewegung in den angloamerikanischen Ländern praktizieren.

Mehrere Beiträge demonstrierten jedoch auch, dass die diskutierten Barrieren für eine noch bedarfsgerechtere Versorgung in Deutschland überwindbar sind. Beispielhaft genannt seien laufende Projekte oder Ergebnisse zur Umsetzung evidenzbasierter gemeinsamer Entscheidungsfindung in der akutstationären Versorgung (versorgungswissenschaftliches Projekt «Share to Care»), zur Erweiterung der Kompetenzen und der Aufgaben von Pflegefachpersonen oder zur Generierung von Evidenz und evidenzbasierten Empfehlungen für klinische Entscheidungsfragen, für die wissenschaftliche Evidenz noch rar ist, wie z. B. bei Therapieentscheidungen in der Palliativmedizin.

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Kontakt

Prof. Katrin Balzer

Prof. Katrin Balzer
Universität zu Lübeck, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege, Lübeck, Deutschland
Kongresspräsidentin

Tel.: +49 (0)451 500-51262
E-Mail: katrin.balzer@uksh.de